Über Jahrzehnte galt Hanfstroh als unbeachtetes Nebenprodukt des Hanfanbaus. Nach der Ernte der Blüten oder Samen blieb ein faserreicher Stängel zurück, der vielerorts bestenfalls untergepflügt oder verbrannt wurde. Was lange als landwirtschaftlicher Reststoff betrachtet wurde, rückt heute zunehmend in den Fokus von Industrie, Forschung und Politik. Denn Hanfstroh ist weit mehr als Abfall – es ist ein vielseitiger Rohstoff mit enormem wirtschaftlichem und ökologischem Potenzial.
Was genau ist Hanfstroh?
Als Hanfstroh bezeichnet man die verholzten Stängel der Hanfpflanze, die nach der Ernte übrig bleiben. Diese bestehen im Wesentlichen aus zwei Hauptbestandteilen: den Bastfasern an der Außenseite und den holzigen Schäben im Inneren. Während die Fasern seit Jahrhunderten für Textilien, Seile oder technische Anwendungen genutzt werden, galten die Schäben lange Zeit als minderwertig. Genau hier beginnt jedoch die Neubewertung.
In modernen Verwertungskonzepten wird Hanfstroh nicht mehr als Abfall betrachtet, sondern als komplexer Rohstoff, dessen Bestandteile gezielt separiert und industriell genutzt werden können. Voraussetzung dafür ist eine funktionierende Verarbeitungskette – von der Ernte über die Röste bis zur mechanischen Aufbereitung.
Historische Nutzung und lange Vernachlässigung
Historisch spielte Hanfstroh eine untergeordnete Rolle. In vorindustriellen Zeiten lag der Fokus klar auf den Fasern für Textilien und der Nutzung von Samen und Öl. Die holzigen Bestandteile wurden kaum verwertet, da technische Möglichkeiten zur effizienten Aufbereitung fehlten. Mit dem Niedergang des Hanfanbaus im 19. und 20. Jahrhundert verschwand auch das Wissen um mögliche Verwertungswege fast vollständig.

Erst mit dem Wiederaufleben des Nutzhanfanbaus seit den 1990er-Jahren stellte sich erneut die Frage, wie mit den großen Mengen an anfallendem Stroh umzugehen ist. Während in der Anfangsphase häufig nur ein Teil der Pflanze genutzt wurde, erkannte man zunehmend, dass wirtschaftlich tragfähige Konzepte nur dann entstehen können, wenn die gesamte Biomasse verwertet wird.
Hanfstroh als Schlüssel zur Wirtschaftlichkeit
Aus ökonomischer Sicht ist Hanfstroh entscheidend für die Rentabilität des Hanfanbaus. Wird lediglich die Blüte oder der Samen genutzt, bleibt ein Großteil der Pflanze ungenutzt. Das führt zu hohen Kosten pro Hektar und limitiert die Skalierbarkeit. Die industrielle Nutzung des Strohs verändert diese Rechnung grundlegend.
Durch die stoffliche Nutzung der Schäben und Restfasern lassen sich zusätzliche Erlösquellen erschließen. Gleichzeitig sinken Entsorgungs- und Transportkosten. In Regionen mit funktionierender Verarbeitungsinfrastruktur kann Hanfstroh damit zu einem zentralen Baustein regionaler Wertschöpfungsketten werden.

Anwendungen in Bauwesen und Dämmtechnik
Eine der bedeutendsten Anwendungen von Hanfstroh liegt im Bauwesen. Aus den Schäben entstehen Dämmstoffe, Leichtbausteine und sogenannte Hanf-Kalk-Verbundmaterialien. Diese Baustoffe zeichnen sich durch gute Wärmedämmung, hohe Diffusionsoffenheit und eine hervorragende CO₂-Bilanz aus. Während konventionelle Baustoffe in der Herstellung große Mengen Energie verbrauchen, bindet Hanf während seines Wachstums Kohlenstoff.
Hanfstrohbasierte Baustoffe sind zudem schimmelresistent, regulieren Feuchtigkeit und tragen zu einem gesunden Raumklima bei. In Frankreich und Großbritannien sind solche Materialien bereits seit Jahren etabliert. In Deutschland hingegen scheitert der flächendeckende Einsatz bislang häufig an fehlenden Produktionskapazitäten und normativen Hürden.
Einsatz in Tierhaltung und Landwirtschaft
Auch in der Tierhaltung hat Hanfstroh seinen festen Platz gefunden. Als Einstreu für Pferde, Kleintiere oder Geflügel überzeugt es durch hohe Saugfähigkeit, geringe Staubentwicklung und schnelle Kompostierbarkeit. Im Vergleich zu Stroh aus Getreide oder zu Holzspänen weist Hanfstroh eine deutlich bessere Umweltbilanz auf.
Ferner findet es Anwendung als Bodenverbesserer. Zerkleinertes Hanfstroh kann organische Substanz in den Boden einbringen, die Wasserhaltefähigkeit erhöhen und die Bodenstruktur langfristig verbessern. Damit schließt sich ein landwirtschaftlicher Kreislauf, der sowohl ökologisch als auch ökonomisch sinnvoll ist.
Technische Anwendungen und neue Werkstoffe
In den vergangenen Jahren rückt Hanfstroh verstärkt in den Fokus der Materialforschung. Die holzigen Schäben eignen sich als Füllstoffe in Biokunststoffen, Pressplatten und Verbundwerkstoffen. In der Automobilindustrie werden hanfbasierte Materialien bereits für Innenverkleidungen eingesetzt, da sie leicht, stabil und nachhaltig sind.
Auch im Verpackungsbereich gewinnt Hanfstroh an Bedeutung. Zellstoff aus Hanf kann Papier und Karton ersetzen oder ergänzen und benötigt dabei weniger Chemikalien als Holz. Zudem wächst Hanf deutlich schneller als Bäume, was ihn zu einer attraktiven Alternative für die Papier verarbeitende Industrie macht.
Ökologische Vorteile gegenüber anderen Rohstoffen
Der ökologische Fußabdruck von Hanfstroh ist bemerkenswert gering. Hanf wächst schnell, benötigt wenig Wasser und kommt ohne intensive Pflanzenschutzmittel aus. Im Gegensatz zu Holz müssen keine jahrzehntelangen Wachstumszyklen abgewartet werden. Zudem lässt sich Hanf in Fruchtfolgen integrieren, was die Bodenqualität verbessert und Monokulturen entgegenwirkt.
Die Nutzung des Strohs verstärkt diese positiven Effekte. Anstatt Biomasse zu entsorgen oder energetisch zu verwerten, wird sie stofflich genutzt und bleibt über Jahre oder Jahrzehnte im Materialkreislauf gebunden. Das macht Hanfstroh zu einem wichtigen Baustein einer biobasierten Wirtschaft.
Infrastruktur als entscheidender Engpass
Trotz all dieser Vorteile bleibt Hanfstroh in vielen Regionen Europas ein untergenutzter Rohstoff. Der Hauptgrund liegt in der fehlenden Infrastruktur. Moderne Röste-, Trocknungs- und Decortication-Anlagen sind teuer und erfordern eine kontinuierliche Rohstoffversorgung. In Ländern wie Frankreich oder den Niederlanden haben staatliche Förderprogramme und genossenschaftliche Strukturen den Aufbau solcher Anlagen ermöglicht.
In Deutschland hingegen existieren bislang nur wenige industrielle Verarbeitungsstandorte. Viele Landwirte stehen daher vor dem Problem, dass sie zwar Hanfstroh produzieren, dieses aber nicht wirtschaftlich verwerten können. Ohne regionale Abnehmer bleibt das Potenzial ungenutzt.
Vom Nebenprodukt zum strategischen Rohstoff
Die Neubewertung von Hanfstroh markiert einen grundlegenden Wandel im Verständnis des Hanfanbaus. Statt einer spezialisierten Nutzung einzelner Pflanzenteile rückt die vollständige Verwertung in den Vordergrund. Hanfstroh wird dabei vom lästigen Reststoff zum strategischen Rohstoff, der ganze Industriezweige miteinander verknüpfen kann.
Für Landwirtschaft, Bauwesen, Industrie und Klimapolitik bietet Hanfstroh eine gemeinsame Schnittstelle. Seine Nutzung reduziert Abhängigkeiten von fossilen Rohstoffen, stärkt regionale Wirtschaftskreisläufe und schafft neue Arbeitsplätze im ländlichen Raum.
Das unterschätzte Potenzial
Ob Hanfstroh tatsächlich den Sprung vom Nischenrohstoff zum industriellen Standard schafft, hängt von politischen Weichenstellungen, Investitionen und technologischem Fortschritt ab. Klar ist jedoch: Die Zeiten, in denen Hanfstroh als Abfall galt, sind vorbei. In einer Wirtschaft, die nach nachhaltigen, nachwachsenden Rohstoffen sucht, ist es ein Schatz, der lange übersehen wurde.
Wenn es gelingt, Infrastruktur, Forschung und Markt zusammenzubringen, könnte Hanfstroh in den kommenden Jahren eine Schlüsselrolle in der biobasierten Industrie spielen – leise, unscheinbar, aber mit enormer Wirkung.




















